Denkanstöße

Der richtige Bausachverständige für Flachdächer und leichte Wandkonstruktionen – im Spannungsfeld mit der Bauphysik

1. Ausgangslage

Dem Bauprozess kommt aufgrund des sich ständig ändernden Stands der Technik, der wissenschaftlichen Entwicklung sowie der sich laufend ändernden Normen eine ganz besondere Stellung zu. Dem entscheidenden Gericht ist die regelmäßige Aneignung der erforderlichen Sachkenntnis nicht zuzumuten. Daher kommt gerade im Bauprozess dem Sachverständigen eine entscheidende Bedeutung zu.

 

Die Regeln der Technik werden in den diversen Normen zusammengefasst. Da sich das Bauwesen in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert hat, können die diversen Regelwerke diese Veränderungen nicht immer zeitgerecht abbilden. Normen, obwohl sich diese in den letzten Jahren immer schneller und häufiger anpassen, sind daher oftmals veraltet.

 

Als Stand der Technik wird in den einschlägigen Bauvorschriften bzw. auch im Bereich von Baurechtsfragen im Wesentlichen die folgende Definition verwendet:

 

"Der auf den einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Entwicklungsstand von Verfahren, Einrichtungen oder Bauweisen, deren Funktionstüchtigkeit erprobt oder erwiesen ist. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Bauweisen heranzuziehen."1

 

Folgerichtig und ergänzend wird in der Literatur ausgeführt, dass allgemein anerkannte Regeln der Technik solche sind, die den, für die Anwendung vorgebildeten, Technikern durchwegs bekannt sind und aufgrund fortdauernder praktischer Erfahrung als technisch geeignet und in der Baupraxis erfolgreich anwendbar und notwendig anerkannt sind.2

 

Ergänzend zum oben Gesagten ergibt sich aus meiner eigenen jahrzehntelangen Erfahrung, dass die bestehenden Regelwerke vor allen Dingen die ÖNORMen zum Teil Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter den aktuellen Entwicklungen stehen und damit absolut nicht den Stand oder die Regeln der Technik repräsentieren. In solchen Fällen muss gezwungenerweise auf Hersteller- und Produktvorschriften zurückgegriffen werden, wobei wesentlich ist, dass die verwendeten Produkte sich in der Praxis bereits bewährt haben. Parallel dazu ist es unbedingt vonnöten, dass wenigstens die in den speziellen Bereichen tätigen Fachleute mit den Anwendungen vertraut sind.

 

Der Sachverständige kann sich daher nicht immer und ausschließlich in seinem Gutachten nach den Normen richten sondern muss die wissenschaftliche Entwicklung und den derzeitigen Stand der Technik miteinbeziehen.

 

2. Eignung des Sachverständigen

Unbestritten zählt die Sachkunde3 auf einem speziellen Gebiet zu den wichtigsten Anforderungen an einen Sachverständigen. Im Rahmen der Zulassung zur Eintragung in die Sachverständigenliste werden dieses spezielle Fachwissen sowie die notwendigen praktischen Kenntnisse auszugsweise abgeprüft. Zur fachlichen Eignung schreibt jedoch die ständige Rechtsprechung auch das Vorhandensein der erforderlichen technischen Geräte (wie zB geprüftes Feuchtigkeits- und Temperaturmessgerät, Wärmebildkamera) verbindlich vor.

 

Die Anforderungen an einen Sachverständigen sind sehr komplexer Natur. Er kann sich nicht auf seinem erworbenen Wissen "ausrasten" sondern ist gefordert, sich laufend weiterzubilden. Die Erstellung eines Gutachtens erfordert organisatorische und sprachliche Fertigkeiten. Bei der gerichtlichen Erläuterung sind rasche Auffassungsgabe und gute Dialektik gefordert. Der Sachverständige hat daher zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und er ein Gutachten ohne oder mit Hinzuziehung anderer Sachverständiger erstellen kann. Ist das nicht der Fall, hat der Sachverständige unverzüglich das Gericht zu verständigen.

 

Vor allem leichte Hallendächer stellen den Sachverständigen sehr häufig vor Schwierigkeiten in der Bewertung, ob eine nach den allgemeinen Regeln der Technik erstellte Konstruktion vorliegt. Die Beurteilungsschwierigkeiten sind darin begründet, dass für die Dacheindeckungen oder Dachabdichtungen, die heute bei Hallendächern verwendet werden, häufig keine aktuellen Normen existieren. Der Sachverständige muss sich hier rein auf sein Fachwissen, die praktische Erfahrung und den Stand der Technik aus der einschlägigen Fachliteratur verlassen können.

 

Das Gutachten selbst stellt zwar keine wissenschaftliche Arbeit dar, der Gutachter muss sich allerdings trotzdem auf die derzeit gültigen wissenschaftlichen Erkenntnisse beziehen.

 

3. Überleitung zur Bauphysik

Die meisten Bauschäden entstehen im Zusammenhang mit Wasser, dabei beschränken sich die Felder nicht nur auf Oberflächenwasser und Bodenfeuchtigkeit sondern auch auf Kondensat und sind somit ursächlich bauphysikalischer Natur. Damit bilden die praktische Anwendung und die Bauphysik eine untrennbare Symbiose.

 

Bauphysik als angewandte Physik am Bau befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen dem Gebäude einerseits und den Einflüssen aus Wärme, Wind, Feuchtigkeit, Niederschlag, Licht, Schall etc. andererseits. Die Sektoren Wärmeschutz und Energieeinsparung sind derzeit eindeutig die am meisten diskutierten Bereiche. Im Hinblick auf den bereits stattfindenden Klimawandel werden sich die Anforderungen aus diesen Betrachtungen in Zukunft noch erheblich steigern, dies auch im Zusammenhang mit extremen Naturereignissen wie Sturm und Starkregen. Die Kenntnis der physikalischen Zusammenhänge ist Grundvoraussetzung für eine fehlerfreie Anwendung im Bau.

 

Da die Bauphysik ein relativ junges Forschungsgebiet darstellt, ist in einzelnen Teilbereichen vieles in Entwicklung und Abklärung, sodass weitere Forschung und mehr Erfahrung notwendig sein wird um abgesicherte wissenschaftliche Regeln angeben zu können.4

 

Bauphysik ist für viele im Baubereich Tätige ein Buch mit sieben Siegeln, Professoren beschweren sich landauf und landab über das Desinteresse von Architektur- und Ingenieurstudenten an Bauphysik. Gerade aus diesem Titel ist der Sachverständige in seinem jeweiligen Bereich gefordert, sich intensiv mit dem Thema Bauphysik auseinander zu setzen, zumal die Begutachtung von Baumängeln und Bauschäden ein umfangreiches Wissen und jahrelange Erfahrung erfordert.

 

4. Ist-Situation

Zurzeit erfolgt die Auswahl des Sachverständigen seitens der verhandelnden Richter über die im Internet abgelegte Sachverständigenliste der gerichtlich beeideten und zertifizierten Sachverständigen. Die fachliche Auswahl erfolgt über das eingetragene Fachgebiet des Gutachters und die Differenzierung nach allfälligen Spezialgebieten. Im Wesentlichen über die Hauptgebiete Bauwesen sowie Baugewerbe, Innenarchitektur. Hier sind wieder die Detailbereiche Hochbau und Architektur bzw. Dachdecker- und Schwarzdeckerarbeiten den leichten Dächern und Fassaden zuzuordnen.

 

Bereits hier wird erkennbar, dass keines dieser Fachgebiete die Spezialbereiche Flachdächer bzw. moderne Fassadensysteme wirklich abdeckt. Dies darum, weil in der Regel unter diesen Fachgebieten andere Begriffsbestimmungen zu verstehen sind. Dachdeckerarbeiten betreffen - rein aus ihrer begrifflichen Natur - steile Dächer mit harten Eindeckungen. Unter Schwarzdeckerarbeiten, noch dazu im Zusammenhang mit Asphaltier- und Isolierarbeiten, kann bestenfalls eine einfache bituminöse Dachabdeckung verstanden werden. Moderne Flachdächer sind in aller Regel mit zeitgemäßen Kunststoffbahnen auf Trapezblechen, teilweise in vorgefertigter Form, abgedichtet. Der spezielle Aufbau als Plus- oder Duo-Dach sowie Gründächer finden in diesem Verzeichnis keine Berücksichtigung. Dasselbe trifft auf flach geneigte Metalldächer in Elementtragwerken mit Großteils schraubenlosen Deckelementen zu. Noch wesentlich diffiziler sind Dachtragelemente aus Holzkassettenkonstruktionen mit Abdichtungen aus Kunststoffbahnen bzw. schraubenlosen Gleitbügelelementen. Eine Zuordnung dieser technisch komplexen Gebiete in die Bereiche "Dachdecker- und Schwarzdeckerarbeiten" scheint zumindest problematisch, da in diesen die eingetragenen Sachverständigen zumeist Handwerksmeister auf dem jeweiligen Fachgebiet sind, ihnen allerdings häufig die ausreichend fundierten bauphysikalischen Kenntnisse fehlen.

 

Als Ausweg wird hier fast immer ein Sachverständiger aus dem Fachgebiet „Hochbau und Architektur“ gesucht. Im Rahmen eines Bauingenieur- oder Architekturstudiums werden in der Regel ausreichend bauphysikalische Kenntnisse vermittelt, sodass dieser Bereich gut abgedeckt wäre. Notwendig zur Erstellung eines sachlich fundierten Gutachtens sind jedoch die praktische Erfahrung und die Detailkenntnis der jeweilig verwendeten Bauprodukte und Verarbeitungshinweise.

Bei der Wahl des passenden Sachverständigen kann man sich vorab an folgenden Punkten orientieren:

 

• Eingetragenes Fachgebiet mit allfälliger Spezialisierung

• Theoretische Ausbildung des Sachverständigen

• Praktische Erfahrung des Sachverständigen

• Vorhandene Referenzen

 

Eine Detailabklärung bringt Einblicke in die Arbeitsweise des Sachverständigen und die ihm zur Verfügung stehende technische Ausrüstung.

 

5. Fazit und Ausblick

Wie verbreitet diese Problematik ist, wird aus einem Artikel "Wenn Gutachter statt Richter urteilen: Ein einziges Glücksspiel" in "Die Presse" vom 3. Dezember 2012 vom Rechtsanwalt und eingetragenen Sachverständigen für Betriebswirtschaft und Bauwesen, Herrn Ing. DDr. Hermann Wenusch deutlich: "Die Frage ist, ob nicht die Einrichtung von Sachverständigenlisten grundsätzlich überdacht werden sollte. Vielleicht würde sich dann nicht nur die Tatsache ändern, dass die Namen gerichtlich bestellter Sachverständiger überdurchschnittlich oft mit Buchstaben des ersten Teils des Alphabets beginnen (weil von Beginn an gelesen wird)."

 

Aus den Ausführungen unter Punkt 4 ergibt sich aus meiner Sicht die unbedingte Notwendigkeit, die vorhandenen Sachverständigenlisten einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und in den Bereichen Dachabdichtung und Fassaden abzuändern bzw. zu ergänzen.

 

Durch die Einführung der Energiesparverordnung mit einer Umsetzung im Bereich Passivhaustechnologie kommt es immer häufiger zum Bau von flachen und flachgeneigten Gebäuden mit einer Dachabdichtung in modernen Flachdachkonstruktionen. Diesem Bereich sollte unbedingt ein eigenes Fachgebiet gewidmet werden. Unabdingbar ist jedenfalls der Nachweis von fundierten bauphysikalischen Kenntnissen zumindest aus dem Bereich Wärme- und Feuchteschutz.

 

Eine alternative Möglichkeit bestünde darin, einen qualifizierten Sachverständigen aus dem Fachgebiet „Bauphysik“ beizuziehen. Dieser sollte über die notwendige praktische Erfahrung auf dem jeweiligen Spezialgebiet verfügen.

 

In ähnlicher Form ist es für moderne Fassadenkonstruktionen mit Metallverkleidungen bzw. Großtafelelementen zu sehen. Diese Bereiche stellen ebenfalls erhebliche Anforderungen an die bauphysikalischen Kenntnisse des Sachverständigen. Primär in den Bereichen Luft- und Winddichtheit, Wärmebrücken etc.

 

Ein effektiveres und vereinfachtes System mit der Zuordnung der Fachgebiete, die dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen, würde die Suche nach dem passenden Sachverständigen wesentlich vereinfachen.

 

Bei über 2 Mio. Quadratmeter verlegter Flachdächer in Österreich pro Jahr "verdient" dieser Fachbereich meiner Meinung nach die wörtliche Erwähnung als Fachgebiet in der Suchliste. Dasselbe gilt für den Bereich Fassadenverkleidung, derzeit gibt es weder den Begriff "Fassade" noch "Wandverkleidung" in der Sachverständigenliste der Justiz.

 

Literaturhinweis:

 

1 Neuhofer, Oberösterreichisches Baurecht, 2007, S. 465.

2 Vgl. dazu etwa Wapenhans, Tragwerksplanung im Bestand, 2005, S. 39.

3 Vgl. Attlmayr/Hrsg., Handbuch des Sachverständigenrechts, 2006.

4 Vgl. Zürcher/Frank, Bauphysik. Bau & Energie, 2010.